Patienteneindruck Paul – Meine 2. Chance durch eine Leberlebendspende

Meine Atemzüge sind tief und lang. Ein süßer Frühsommerduft liegt in meiner Nase. Die Sonne strahlt in mein Gesicht. Der Himmel in tiefem Blau. Wolken weiß, wie Schnee. Die Natur voller Farben, unglaublich intensiv. Um mich herum ist es laut. In mir herrscht Stille. Keine beängstigende Stille. Sie ist beruhigend, lässt mich alles aufsaugen und diesen Moment für immer in meinem Kopf verankern.

Ein junger Mann auf einem Steg vor einem Sonnenuntergang über dem Meer

Es ist der 27. Mai 2024.

Es waren die ersten Schritte auf dem Weg nach Hause. Wie sich das anfühlt, kaum zu beschreiben. Nach all dem Kampf, den Schmerzen, den unzähligen Tränen in den schlaf­losen Nächten, der Hoffnung auf Leben, den Rück­schlägen, war es endlich so weit: Mein neues Leben hat begonnen. Sechs Monate Kranken­haus sind vorüber. Ich bin seit dem 02.05.2024 leber­transplantiert.

Im Mai 2023 bekam ich die Diagnose PSC und Colitis Ulcerosa. PSC bedeutet primär sklerosierende Cholangitis. Es handelt sich um eine chronische Leber­erkrankung, bei der die Gallen­wege entzündet sind und sich verengen, was zu einem Galle­stau und potenziell zu Leber­vernarbungen (Zirrhose) führen kann. Colitis Ulcerosa ist eine chronisch-entzündliche Darm­erkrankung. Bei der Diagnose wurde mir gesagt, ich bräuchte in einigen Jahren eine neue Leber. Dass es nur 364 Tage werden bis zu meiner Transplantation, hätte mir zu diesem Zeit­punkt nicht träumen lassen.

Bis dahin war ich gesund. Ich genoss das Leben als 20-jähriger, liebte das Reisen, war mitten im Studium und als Fußball­schiedsrichter in Deutschland unterwegs. Wie leichtsinnig man doch manchmal mit der Gesundheit und dem Leben umgeht, denke ich mir heute. Ein Privileg, Menschen zu sehen, die gesund sind. Ein Geschenk, welches mit meinem heutigen Blick gar nicht so selbst­verständlich ist, wie ich damals dachte.

Es folgte der erste Rückschlag. Im Juni 2023 mein erster extremer Schub der Colitis Ulcerosa. Zwei Wochen Kranken­haus, 15 kg Gewichts­verlust und das erste Mal wurde ich mit meiner Krank­heit konfrontiert. Ich kämpfte mich zurück. Es änderte meine Sicht auf die Situation und mir wurde bewusst: „Ich bin krank – für immer!“.

Das Jahr 2023 zog vorüber und die Advents­zeit stand bevor. Mitte Dezember hatte ich eine ERCP (Gallengangs­spiegelung) im Uni­klinikum Jena. Ein Gallengangs­krebs konnte ausgeschlossen werden. Ein Tag später ging es nach Hause. Und plötzlich waren sie da – Bauch­schmerzen, unglaublich heftig. Als würde mir jemand seinen Ellen­bogen mit voller Wucht in den rechten Ober­bauch drücken. Also wieder nach Jena. Eine knappe Stunde Fahrt. Recht schnell wurde klar: Bauchspeichel­drüsen­entzündung. Heilig­abend verbrachte ich im Kranken­haus. Wie ich das empfand: riesengroßer Mist. Aber was solls. Am ersten Weihnachts­feiertag ging es nach Hause. Wenigstens etwas dachte ich mir. Die Bauch­schmerzen wurden aber wieder schlimmer. Ich fühlte mich erschöpft, bekam Fieber und machte mich wieder auf den Weg nach Jena.

Die erste (von vielen) Entzündungen der Gallen­gänge hatte mich erwischt. Auch Silvester verbrachte ich im Kranken­haus. Heute schmunzeln wir drüber. Glücklicherweise hatte ich ein Zimmer, welches Richtung Wohn­gebiet ausgerichtet war. Wer kann schon behaupten, mit seiner Freundin den Jahres­wechsel im Kranken­haus zu verbringen und sich dort das Feuer­werk anzuschauen? Nichts worüber man sich freuen könnte. Aber eins muss ich sagen: Danke Lea, dass du mir diese Zeit so viel erträglicher gemacht hast!

Es folgte eine Zeit der Ungewissheit. Ich verlernte, meinem Körper zu vertrauen. Oft hatte ich das Gefühl, er würde mich im Stich lassen. Doch war es offen gesagt das Gegen­teil, was er in dieser Zeit leisten musste. Er kämpfte für mich, für mein Überleben.

Anfang Februar war ich wieder im Klinikum. Diesmal ging es mir so richtig mies. Eiter in der Galle und in den Gallen­gängen. Die Frage, ob meine Gallen­blase operativ entfernt werden muss. Mein Allgemein­zustand katastrophal. Es folgte ein erneuter stationärer Aufenthalt.

Und dann war auf einmal diese Spannung im Raum. Die Ärzte kamen zur Visite und ich spürte, dass etwas anders war. „Paul, Sie brauchen schneller eine neue Leber, als wir vorerst dachten. Wir würden Sie gerne sofort evaluieren und listen lassen.“ Ein Moment, der eine Ewigkeit dauerte. Ich hatte so viele offene Fragen, aber gleichzeitig war mein Kopf leer. Tag ein, Tag aus Antibiotika, immer mit der Hoffnung, dass diese anschlagen und mir zumindest für eine kurze Zeit­spanne die Schmerzen lindern. Auch war ich das erste Mal sichtbar gelb geworden, meine Augen, meine Haut. Ich stand vor dem Spiegel: schockiert, ungläubig und mit Tränen in den Augen. Der Paul, den ich selbst kannte, existierte für mich nicht mehr. Ich kämpfte jeden Tag, ungewiss, was mich am nächsten Morgen erwarten würde.

Ich kam wieder nach Hause. Drei Tage lang konnte ich mich fallen lassen, zwar mit Schmerzen, aber ich war da, wo ich hingehörte. Nicht in irgendeinem Kranken­haus, sondern bei meiner Familie und meiner Freundin. Jedes einzelne Mal, wenn ich zu Hause sein konnte, schöpfte ich so viel Kraft daraus wie möglich, um den nächsten Krankenhaus­aufenthalt zu überstehen.

Und dann wurde es von einer auf die andere Stunde wieder schlechter. Juckreiz, Fieber, pure Erschöpfung. Ich wusste war mir bevorstand: Jena – erneute Cholangitis – Klinik.

Am ersten Morgen nach meiner Aufnahme kam ein junges Ärzte­team zur Visite. Ich fühlte mich wohl bei Ihnen, verstanden und sicher. Auch wenn ich es innerlich hasste im Kranken­haus zu sein. Zuerst machten sie mir deutlich, wie ernst es gerade ist. Gerne wollten sie den folgenden stationären Aufenthalt nutzen, um alle Evaluierungs­untersuchungen durchzuführen. Eine Wahl hatte ich nicht. Also folgte eine stressige Woche, immer im Kontext meines körperlichen und geistigen Zustandes.
Anderseits fragten sie mich fast schon vorsichtig, ob ich mich schonmal mit dem Thema einer Leber­lebendspende beschäftigte hätte. Unsicher antwortete ich: „Was bedeutet das?“ Sie nahmen sich Zeit. Erklärten mir, dass man eine gesunde Leber teilen und mir davon ein Stück transplantieren könnte, damit es mir wieder besser geht. Mein Herz schlug immer schneller und ich antwortet direkt: „Ich weiß, dass Mama, Papa, mein Bruder, meine Freundin… alle möchten mir helfen, damit ich wieder zu Hause sein kann. Damit sie wieder Ihren Paul wieder bei sich haben.“ Mir flossen die Tränen den Wangen herunter. Am Nach­mittag waren sie da, meine Eltern, meine Oma, so wie jeden Tag. Unglaublich, was ihr in diesen Tagen für mich möglich gemacht habt. Es gab kein „Ihr“, für euch alle gab es nur „Paul“. Dafür werde ich euch allen immer dankbar sein!

Am Nach­mittag gab es nun das Gespräch mit dem Ärzte­team, meinen Eltern und mir. Ohne zu zögern, sagten meine Eltern: „Wir machen das, wir wollen nur, dass es unserem Paul wieder gut geht.“ Es folgte ein Termin in der LTx-Ambulanz. Ultra­schall, Blut­kontrolle und Arzt­gespräch standen uns bevor. Nachdem wir das als Familie absolviert hatten, stand eine vorläufige Entscheidung fest: Meine Mama könnte ein potentielles Match sein.

Nun musste sie Anfang April auch eine Evaluation als potentielle Spenderin durchlaufen. Untersuchung um Untersuchung, immer mit dem Hinter­gedanken „hoffentlich passt alles“.  Bereits in derselben Woche bekamen wir das ein oder andere Ergebnis mit. Es sah so weit gut aus. Dennoch hieß es warten und bangen, denn sicher konnte man sich an dieser Stelle noch nicht sein.

Ich war zu diesem Zeit­punkt bereits auf der Transplantations­liste von Euro­transplant gelistet und hätte auch jederzeit ein Organ­angebot bekommen können.

In halbwegs vernünftigem Zustand und unter Dauer­antibiose konnte ich zu Hause sein. Auch verbrachte ich die Tage bei meiner Freundin. Es war schwer, die Tage zu bestreiten. Ich wartete schließlich auf den Anruf aus Jena. Mein Handy war immer bei mir und immer laut, auch nachts.

Am 17. April am frühen Nach­mittag klingelte es mal wieder, fast enttäuscht zog ich es aus der Hosen­tasche, da ich befürchtete, es sei ein privater Anruf. Ich schaute auf mein Handy, Jenaer Vorwahl, die Klinik­ziffern erkannte ich auch. „Das muss es sein!“ dachte ich. Mit vorsichtiger Stimme ging ich dran. Eine freundliche und entspannte Stimme sprach zur mir: „Hallo Paul, hier ist die Uni­klinik Jena. Wir haben einen OP-Termin für deine Mama und dich. Der 02.05.2024 …“ Sofort schossen mir Tränen in die Augen und ich fiel meiner Freundin in die Arme. Ich hatte Angst vor dem, was kommt und wie es ausgehen würde. Natürlich war es meine einzige Hoffnung, aber – so hart es klingt – Mama und ich hätten bei dieser OP auch sterben können.

Im Arm meiner Freundin flüsterte sie mir zu: „Paule, du bekommst die Chance auf ein zweites, neues Leben. Bald wird alles besser und wir beide können wieder die Welt zusammen unsicher machen.“

Am 01.05.2024 ging es nun wieder nach Jena. Diesmal geplant. Diesmal wusste ich, so schnell werde ich nicht wieder zu Hause sein. Alle waren dabei, Mama und Papa, meine Freundin, mein Bruder mit Freundin, meine Oma. Abends gingen wir noch mal raus. Gingen spazieren, aßen Pizza und saßen zusammen mit Blick auf das Klinikum und die langsam untergehende Sonne. Direkt neben unserer Bank ein Meer von Klee. Wir suchten und wurden fündig. Einige vierblättrige Klee­blätter fanden wir. Wir wickelten Sie in Papier und trockneten sie. Wenn das kein Glück bringt, dachte ich (die Klee­blätter habe ich bis heute gut behütet in meinem Zimmer).

Dann war es Zeit zum Abschied nehmen. Keiner wusste, ob es ein Abschied für immer ist oder ob wir uns nach der Transplantation wiedersehen. Meinem Papa gab ich einen Brief und einen Glücks­engel, welchen er Mama nach der OP geben sollte, als Aufpasser, solange ich das nicht sein konnte.
Eine Situation, welche ich so niemals wieder erleben möchte. Es zerriss mich innerlich, in diese Augen und Gesichter der Personen zu schauen, die alles für mich waren.

Die Zeit nach der Transplantation war die schwerste meines Lebens. Ich kämpfte Tag für Tag. Kleine Schritte bestimmten meine „Alltag“ im Kranken­haus. Und dann war er endlich da. Der Tag, an dem ich nach Hause durfte. Ich war so aufgeregt, dass ich nachts kaum schlafen konnte und sehnlichst auf die Ärzte wartete, damit diese mir Grünes Licht geben.
Daheim angekommen, machte sich der Geruch von „zu Hause“ in mir breit und ich tat das erste, was ich immer nach dem Kranken­haus machte, mich in MEIN Bett legen und für einen Moment alles um mich herum vergessen.

Ich kämpfte mich zurück. Reha, Physio­therapie, meine ersten Spazier­gänge, die erste kleine Runde auf dem Fahr­rad, Essen selbst kochen, einkaufen gehen. Aber es gab auch Rück­schläge. Die Winter­zeit war von Infekten geprägt. Auch eine Lungen­entzündung überstand ich. Ich konnte wieder zur Arbeit, hatte das Gefühl im Leben voranzukommen. Der erste Urlaub auf dem Schiff nach Norwegen. Vorsichtig, aber voller Taten­drang. Ich kann wieder Fußball­spiele pfeifen. Und nun? Das Leben ist normal. Das Leben ist lebens­wert. Natürlich gibt es Einschränkungen. Aber sind wir alle nicht das, was wir daraus machen?

Ich möchte allen, aber besonders jungen Menschen, egal ob krank oder gesund, Mut machen. Verwirklicht euch und eure Träume. Genießt jede Sekunde. Macht das worauf ihr Lust habt. Verbringt die Zeit mit den Menschen, die euch guttun. Seid dankbar für Momente, die euch erfüllen. Gebt niemals auf, egal wie ausweglos die Situation erscheint, ihr schafft das! Genießt das Geschenk des Lebens!